24 Juni 2009

Die offenen Adern Lateinamerikas


Eduardo Galeano war mehrere Jahre Chefredakteur von Zeitschriften in Uruguay und Argentinien. In seinem Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas – die Geschichte eines Kontinents“ aus dem Jahre 1971 widmet er sich der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung des Kontinents und sucht nach den heute noch allgegenwärtigen Wurzeln von Rückständigkeit und sozialer Ungleichheit. Nach Wurzeln die Jahrhunderte zurückreichen in die Zeit in denen aus Entdeckern Eroberer wurden, in die Zeit der spanischen und portugiesischen Kolonialherrschaft, die abgelöst wurde von Nationalstaaten, deren Unabhängigkeit sich in einer umso stärkeren Abhängigkeit erst von europäischen, später von nordamerikanischen Staaten und Unternehmen ausdrückte.

Den europäischen Entdeckern offenbarte sich ein an Leben, Vegetation, fruchtbarem Boden und Bodenschätzen reicher Kontinent. Galeano sieht darin auch eine der großen Ursachen, weshalb sich Lateinamerika beispielsweise im Vergleich zu Nordamerika anders entwickelt hat.
„Die Pilger der Mayflower überquerten nicht das Meer, um legendäre Schätze zu erobern, noch um die Eingeborenenzivilisationen zu vernichten – die im Norden nicht vorhanden waren, sondern um sich mit ihren Familien niederzulassen und in der Neuen Welt das Lebens- und Arbeitssystem, das sie in Europa geübt hatten, wiederaufzubauen. Es waren keine Glücksjäger sondern Pioniere, sie kamen nicht, um zu erobern, sondern um zu besiedeln: sie gründeten Bevölkerungskolonien …
Die Siedler Neuenglands, die den ursprünglichen Kern der nordamerikanischen Zivilisation darstellten, haben niemals als Kolonialvertreter des in Entstehung begriffenen europäischen Kapitalismus gehandelt; von Anfang an dienten sie ihrer eigenen Entwicklung und der Entwicklung ihres neuen Landes.“
Lateinamerika wurde aufgrund seines Reichtums von einem anderen Geist ergriffen. Ressourcen und Arbeitskräfte wurden systematisch erst durch Kolonialmächte, später durch europäische und nordamerikanische Unternehmen und Staaten sowie durch die eigenen Eliten ausgebeutet.
Die Ausbeutung hatte viele Facetten und Schauplätze. Sie reicht von den Gold- und Silbervorkommen im 16. bis 18. Jahrhundert über die Ausbeutung des fruchtbaren Bodens durch Zuckerrohr-, Kautschuk-, Kakao-, Baumwoll- und Kaffeeanbau bis zur Ausbeutung der Kupfer-, Zinn-, Eisen- und Erdölvorkommen. Bei den Arbeiten kamen billigere Arbeitskräfte, wie z.B. indianische Ureinwohner oder Sklaven zum Einsatz und die fruchtbaren und reichen Böden wurden im Sinne des Auslands genutzt, obwohl die Flächen besser zur Verminderung des Hungers benötigt worden wären.

Im Vergleich zu Nordamerika ist es in weiten Teilen nicht gelungen, Rechte der Landbevölkerung zu etablieren. Daher dominierten Hunger und Unternährung über Jahrhunderte. Fruchtbarer Boden wurde in der Tradition kolonialer Landverwalter von landwirtschaftlichen Großunternehmen bewirtschaftet, die einigen Weniger gehörten. Dort wurden Produkte wie Zuckerrohr, Baumwolle und Kaffee angebaut, die der Weltmarkt nachfragte und durch europäische und nordamerikanische Preisgestaltungsmacht viel zu billig ausgeführt werden konnten. Produkte, die den Hunger der Bevölkerung lindern hätten können, wurden nur in sehr geringem Maße produziert, da dies wirtschaftlich noch uninteressanter gewesen wäre.
Galeano sieht einen entscheidenden Grund für diese externe Ausbeutung vor allem auch darin, dass sich erst sehr spät einen Bourgeoisie herausgebildet hat, die sich nach ihrer zögerlichen Entstehung ohne Interesse an der Entwicklung des eigenen Landes und Kontinents zum Handlanger der Kolonisten, später europäischen und nordamerikanischen Unternehmen und Staaten gemacht hat.
Über Jahrhunderte hatte es Lateinamerika schwer, einen internen Markt zu entwickeln. Infrastrukturen wurden nur mit dem Ziel errichtet, um Bodenschätze, landwirtschaftliche Erzeugnisse und sonstige Produkte möglichst schnell nach Übersee abzutransportieren. Lateinamerikanische Produktionszentren standen kaum miteinander in Verbindung. Dazu kommt, dass über viele Jahrhunderte der Aufbau von Handwerkszweigen und Industrien unterdrückt wurde und damit keine höherwertigen Wirtschaftsprozesse etabliert werden konnten, die in Konkurrenz zu europäischen und nordamerikanischen Unternehmen treten konnten. Dazu wurde das gesamte Spektrum politischer, wirtschaftlicher und militärischer Beeinflussung genutzt. Und gelang es einem Land dennoch, so Galeano, neue Handwerkszweige und Industrien zu entwickeln, blieb den europäischen und nordamerikanischen Staaten immer noch die Macht der Preisgestaltung sowie der Schutz ihrer Märkte – entweder durch direkte Zölle oder indirekte Subventionen. Ein Recht, das lateinamerikanischen Staaten nicht gestattet wurde. So waren über Jahrhunderte hinweg die britischen und us-amerikanischen Botschafter mächtigere Personen als die Präsidenten des einzelnen Länder.

Galeano führt zahlreiche Bewegungen an, deren Ziel es war, die Unabhängigkeit ihrer Länder zu stärken, eine Land- und Bodenreform herbeizuführen und die Bauern des Landes in die Lage zu versetzen, Lebensmittel zu produzieren. Später traten die Bewegungen aber auch dafür ein, die Bevölkerung der Länder Lateinamerikas am Reichtum und den Arbeitsleistungen ihres Kontinents stärker teilhaben zu lassen (z.B. durch höherer Steuern, der Etablierung weiterverarbeitender Wirtschaftsleistungen, der Ausbildung inländischer hochqualifizierter Arbeitskräfte, der Einführung von Arbeitsschutzstandards oder der Etablierung von Mindestlöhne, um der Ausbeutung der Arbeitskräfte vorzubeugen und einen internen Markt zu entwickeln).
Viele der Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen, ob in Chile (Salvadore Allende), Kolumbien, Uruguay (José Artigas) und Argentinien (Felipe Varela) wurden durch europäische und nordamerikanische Interessen politisch, wirtschaftlich und militärisch unterdrückt. Beispiele für diese Eingriffe finden sich zahlreiche: Argentinien 1852, Paraguay 1865 Krieg des Dreibundes, der durch England finanziert wurde, Uruguay 1933 etc.

Im zweiten Teil des Buches schildert Galeano die aktuellen Formen der kapitalistischen Ausbeutung, die wesentlich subtiler sind als das bloße Ausführen von Ressourcen und landwirtschaftlichen Produkten.
Da sich in den Ländern Lateinamerikas keine leistungsfähige Kreditwirtschaft herausgebildet hat, sind die Staaten abhängig von Auslandsinvestitionen. Damit wächst zwar die Industrieproduktion im Land, jedoch gehört ein Großteil der lateinamerikanischen Wirtschaft damit nicht lateinamerikanischen sondern globalen Unternehmen, die sich die günstigen Arbeitskräfte zu nutze machen. Gewinne und Produktionszuwächse fließen großteils ins Ausland ab und aufgrund eines sehr zurückhaltenden Steuersystems partizipieren die lateinamerikanischen Staaten nur in sehr geringem Maße.
Der Einfluß internationaler Einrichtungen (Weltwährungsfonds, Weltbank etc.) und multinationaler Konzerne auf die Politik der Länder ist groß. Geringe Arbeitslöhne haben dazu geführt, dass sich keine internen Märkte entwickeln konnte. Die Versorgungslage weiter Bevölkerungsteile ist ungebrochen prekär, da Agrarreformen versäumt wurden. Diese landwirtschaftliche Not treibt die Menschen in die Vorhöfe der Mega-Cities, in denen sie sich ein besseres Leben erträumen oder versuchen, von schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs zu überleben. Denn die Zeit der wachsenden Arbeitsplätze in der industriellen Produktion sind auch hier vorbei und Rationalisierung hält Einzug.

Galeano belässt es nicht dabei, nach Schuldigen einer dramatischen Entwicklung des Kontinents zu suchen. Er schrieb das Buch im Jahre 1971. Seine Analyse der Ursachen für Rückständigkeit und große soziale Ungleichheit hat jedoch immer noch Relevanz. Die Rückständigkeit in einer Region die so reich an Bodenschätzen, Boden und Kultur ist, die nicht selbstverschuldet ist, sondern dem Fehlen eine souveränen Entwicklung über Jahrhunderte hinweg zuzuschreiben ist. Lateinamerikas Entwicklung in den letzten gut 500 Jahren ist Europa und Nordamerika zu gute gekommen und hat dort Kapitalanhäufungen, wirtschaftliche Dynamik, günstige Preise und reichhaltige Auswahl an Konsumgütern ermöglicht. Lateinamerika jedoch hatte selbst davon am Wenigsten.